Archiv 2015 & 2014
In einer fremden Kultur zur Sprache und Heimat finden (Dez 2015)
Sie liebt leuchtende Farben und vor allen Dingen bewegungsfreudiges Rumturnen und Räderschlagen. So lernen wir sie kennen, die Heldin der Geschichte, die von ihrer Tante „Wildfang“ genannt wird. Doch dann kommt der Krieg, nimmt ihr den Namen und die Heimat. Mit ihrer Tante flüchtet sie und erzählt: „Um in Sicherheit zu sein, kamen wir in dieses Land. Alles war fremd. Die Leute waren fremd. Das Essen war fremd. Die Tiere und Pflanzen waren fremd. Sogar der Wind fühlte sich fremd an.“ Aber am schlimmsten ist der Verlust der eigenen Sprache, der Muttersprache. Die fremden Wörter fühlen sich an wie ein kalter Wasserfall, sie machen einsam und nagen am Selbstverständnis. Da hilft nur der Rückzug in eine Decke aus eigenen vertrauten Worten und Geräuschen. In die kann man sich kuscheln und will einfach gar nicht mehr hinausgehen in diese fremde Welt. Wie gut, dass das Zusammentreffen mit dem Mädchen im Park die rettende Veränderung bringt. Langsam findet sie statt und schrittweise. In einem Wechselbad der Gefühle begibt sich das Kind in die Welt der fremden Worte, lernt über die Beziehung einfache und schwierige neue Worte, und schon bald klingen die nicht mehr so kalt und so hart. Und was sich vertraut und warm und weich anhört ist bestes Webmaterial für eine neue Decke. Auch wenn diese sich anfänglich dünn zeigt, wächst sie mit jedem Tag an dem neue Worte eingewebt werden. Wer sich auf einem so aussichtsreichen Weg in eine zweite Sprachheimat befindet, dem ist zunehmend gleich, welche sprachliche Decke ihn wärmt. Und da dieses sprachliche Gleichgewicht eine Voraussetzung für Integration und Ichstärke ist, erleben wir am Ende ein Mädchen, das wieder zum Wildfang wird und Räder schlägt…
In dieser Geschichte fungiert die eigene Sprache sinnbildlich als Decke, als ein Zuhause, in dem sich der Mensch wohlfühlt und beheimatet ist. Diese Bildsprache, gezeichnet in kalten und warmen Farbtönen, macht Fremdsein und Heimat symbolstark erfahrbar. Und so sind es die intensiven Gestaltungselemente die ermöglichen, dass bereits junge Kinder nachfühlen und mitfühlen können, was es heißt, in ein fremdes Land zu fliehen und dort ein Zuhause, eine Heimat, zu finden. Selbst ohne Text ist die Botschaft der Bilder für Kinder nachvollziehbar und verständlich.
„Zuhause kann überall sein“ ist ein künstlerisch sehr ansprechend gestaltetes Buch, das nicht nur ermöglicht, über Flucht zu sprechen, sondern auch eines, das Flucht und Sehnsucht nach Zukunft richtiggehend erspüren lässt. Ein Buch, das gebraucht wird in einem Land, das Heimat werden soll für Menschen, die aus Diktatur und Krieg fliehen müssen.
Zuhause kann überall sein“ kann als Impuls dienen, dass Kinder nachvollziehen können wie fordernd es ist, sich in einem neuen Land wiederzufinden. Unschwer werden Kinder mitfühlen, dass es viele Ängste und Unsicherheiten zu durchleben, gilt bevor Zuversicht und Begegnung dafür sorgen, dass über verständliches Miteinander ein Ankommen in einer fremden Sprache und Kultur möglich wird. Da die Bildfriese der Patchwork-Decke den alten und neuen Wortschatz des Mädchens in Bilder umsetzen, können Kinder mit Deutsch als Zweitsprache die Abbildungen auch mit den Worten ihrer jeweiligen Muttersprache benennen. Dabei kommt das hörbar Schöne der Sprache zum Ausdruck: ihr Klang, ihre Melodie, die an jedem hängen bleibt – umso mehr wie Sprache belebt, erlebt und letztendlich gelebt wird
Irena Kobald /Freya Blackwood: Zuhause kann überall sein
München: Knesebeck 2015, 32 Seiten| € 12,95 | ab 5
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
High Five im Fingerspiel (November 2015)
„Der Daumen ist der Heinz, das ist die Nummer eins.“ Bereits auf der ersten Seite ist es unübersehbar: hier hat jemand die Finger im Spiel. Und wie es sich im klassischen Fingerspiel verhält, wird erst einmal jedem der fünf Finger ein anderes Tätigkeitsmerkmal zugeschrieben. Es wird genascht und gekitzelt, getragen und gerührt, so dass eine Spielhand zufrieden resümiert: „So laufen sie durchs Land, fünf Knirpse einer Hand.“
Tja, aber nur solange bis sie plötzlich auf ihresgleichen, in Form der linken Hand, treffen. Im Anblick der Doppelgänger ist der Traum von der Einzigartigkeit ausgeträumt, es gibt Erstaunen, Entsetzen und Streit – bis ein Vogel alle voll kleckert und die sich beim unbedingt erforderlichen Händewaschen gefundene Notgemeinschaft eines Besseren besinnt: „Gib mir fünf!“, ruft Pip. „Schlag ein! Zehn Freunde wollen wir jetzt sein!“
Die aus dem Englischen „give me five“ entlehnte Schlussaufforderung gibt der kinderkulturellen Tradition des Fingervers eine aktuelle Note und zeitgeistigen Schwung – das amüsiert und animiert, sodass das Fingerspiel gleich nach dem ersten Vorlesen beginnen kann.
Witzig und farbstark kommen sie daher die zehn Finger dieser überzeugend gereimten Geschichte, die unaufgeregt dafür wirbt, dass es gemeinsam und miteinander doch besser geht als im Alleingang. Viel zu selten schafft es ein Fingerspiel ins Bilderbuch. Überwiegend sind die seit Jahrhunderten zur Kinderkultur gehörenden Texte in Anthologien und im Fachbuch zu finden, meist schlicht und eher zweckbetont gestaltet. Dass eine stark bebilderte Aufbereitung Kinder noch lustbetonter mit Text und Spiel zusammenbringt und die Freude am gestischen Spiel mit den Fingern noch steigern kann, dafür sorgen die pfiffigen Illustrationen von Christiane Piper.
So ist das Buch wieder ein Beweis mehr, dass das Fingerspiel nicht als altmodische und rückwärtsgewandte Spielerei zu bewerten ist, sondern vielmehr als unverzichtbarer Bestandteil einer reflektierten sprachlichen Bildung und Sprachförderung. Durch Fingerspiele entwickeln Kinder literacy-bezogene Kompetenzen, die einen bedeutsamen Beitrag zum Spracherwerb leisten sowie die sprachliche Abstraktionsfähigkeit anregen.
Dass ein Fingervers literarisch bestehen und sich durchaus an die Gestaltung eines Comics anlehnen kann erleben wir mit diesem Spielimpulse setzenden Pappbuch überzeugend und überaus erfreulich.
Yvonne Hergane/Christiane Pieper: Die Fünferbande
Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 2015, 24 Seiten | € 13,90 | ab 2
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Über eine besondere Reise… (Oktober 2015)
Pinguin Blau hebt ab: er und sein roter Drachen werden vom stürmischen Wind verweht. An der Schnur aber bleiben auch andere arktische Tiere hängen und segeln mit dem Pinguin durch die Lüfte, bis sie auf einer wilden grünen Insel landen. Auf dem subtropischen Eiland fühlen sich weder die Pinguine, noch die Robbe und der Eisbär besonders wohl. Dank tatkräftiger Hilfe eines „pffffft-trötenden“ Elefanten gelangen sie im Segelschiff Marke Eigenbau hinaus aufs offene Meer.
Samt einem blinden Passagier kehren sie wieder nach Hause zurück und freuen sich, dass sie es auf ihren kühlen Eisschollen wieder gemütlich haben.
Erzählt wird die abenteuerliche Geschichte in Reimen, ihr offener Schluss animiert zum Weitererzählen. Wunderschön „nachzulesen“ ist alles in den originellen und sehr atmosphärischen Bildern. Witzig und detailfreudig erzählen diese die vielen Stationen der gewagten und halsbrecherischen Hin- und Rückreise und setzen das kühle Blau der arktischen Welt mit dem wilden Grün der Tropen in Beziehung.
Ob Landkarte, witzige Wegweiser oder ein nummerierter Wolkenhimmel - überall gibt es Zeichen und Symbole zu entdecken und zu deuten. In Verbindung mit vielfältigen Bildformaten und einem - beim Bilderbuch selten vorkommenden – Schutzumschlag erfahren Kinder mit diesem Buch erfreulich viel über das Wesen von Büchern und die spannende Kunst Geschichten abzubilden.
Die farbstarke Gestaltung und der von der lyrischen Sprache geprägte Erzählduktus sorgen dafür, dass Kinder nicht nur beim Vorlesen in die Geschichte eintauchen, sondern auch mit Vergnügen das dialogorientierte gemeinsame Lesen der Bildgeschichte genießen.
Rob Bidulf: Weggepustet
Zürich: Diogenes Verlag, 2015, 32 Seiten | € 16,90 | ab 4
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Extrawimmeliger sprachintensiver Bilderlesespaß (September 2015)
Wimmelbücher sind in besonderer Weise geeignet, Fantasie und Kreativität von Kindern anzuregen und differenzierten Sprachgebrauch zu fördern. Sie erzählen in Bildern, sie weisen auf etwas hin, sie laden zur sprachlichen Ausdeutung ein. Dieser Impulscharakter von Bildern wird im Wimmelbilderbuch besonders erlebt und betont.
Hinschauen, immer wieder Neues zu entdecken, das hat in Wimmelbildern einen besonderen Reiz: "...guck mal, wie viele Tische die Mädchen stemmen – ich zähl sie mal.."
"...und da, der ist der Konrad Wimmel , der ist immer irgendwo. Ich suche ihn jetzt auf jeder Seite. Du dann schauen wir wie die Miss X verfolgt wird."
Diese Sichtweisen von Kindern bringen das auf den Punkt, was das Wimmelbuch ausmacht: zahlreiche Szenen mit vielen Details bilden die Erlebnisse von Konrad Wimmel ab. Und diese textfreien Bilder sind ideal, um gemeinsam zum Anschauen, Sprechen und Erzählen zu kommen.
Im Falle dieses Foto-Wimmelbuchs sind dies mehr als 5000 fotografierte Bilder, die die Welt von Konrad Wimmel und seinen Freunden in Szene setzen. Wunderbarerweise ist in seiner Wimmelwelt einfach alles möglich: man kann fliegen, sich in einen feuerspeienden Drachen oder eine langhalsige Giraffe verwandeln und mit den merkwürdigsten Fortbewegungsmitteln unterwegs sein. Es gibt geniale Erfindungen und skurrile Pflanzen zu bestaunen, und wer eine abenteuerliche Verfolgungsjagd aufnehmen will, begibt sich auf die Spur von Miss X, die Opa und Oma Wimmel beklaut hat. Fünfundzwanzig Fragen verlocken dazu, genau hinzusehen und in diesen fantasievollen Welten das Gesuchte zu entdecken.
Wimmelbilder faszinieren und begeistern Kinder. Die großformatigen Doppelseiten wirken sich sehr förderlich auf die Konzentrationsfähigkeit aus, denn Kinder können sich die Bilder ausschnittsweise erobern und in zusätzlichen Zoom-Varianten detailliert betrachten. Wie von selbst wird viel Kommunikation in Gang gesetzt: die Betrachtenden gestalten gemeinsam die sprachliche Auseinandersetzung mit dem Wimmelbild.
Zusammen mit 230 Kindern hat der Fotograf Jan von Holleben diese Wimmelwelt realisiert. Mit viel Gestik, Mimik und Bewegungsfreude gestalten die Kinder die Bildszenen dieses originellen Wimmelbuchs, die sich erschließen, interpretieren und auf der Folie der eigenen Phantasie deuten lassen.
Wer Lust hat, solche Fotos selber zu machen, schaut sich auf www.konradwimmel.de das making-of zum Buch an. Dort ist zu bestaunen, wie verblüffend einfach die phantastischen Bilder von Jan von Holleben entstehen und wieviel Lust am Verkleiden und Spielen Kinder dabei erleben.
Jan von Holleben: Konrad Wimmel ist da!
Stuttgart: Thienemann 2015, 32 Seiten | € 14,99 | ab 3
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Sprechlustiges - mit großem und kleinem Getier (August 2015)
Vater Bär kommt beladen vom Einkauf nach Hause, und seine zwei Kleinen sind reichlich interessiert, was sich da wohl in Tüte, Tasche und vor allem im Eimer verbirgt. Wie im echten Kinderleben lieben die Bärenkinder Süßes und Honig zählt zu ihren Leibspeisen. Lyrisch erzählt der Text: „Wenn der Bär nach Hause kommt, / dann freu´n sich alle sehr, / denn meistens bringt er Honig mit / und manchmal auch noch mehr.“
Tier und Reim gehen in diesem Pappbilderbuch Hand in Hand: Vierzig Vierzeiler erzählen, was Tierkinder in ihren Familien alltäglich erleben und Menschenkinder unter drei Jahren bestens nachvollziehen können. Da singen kleine Raben, die Löwenkinder leben ihren Forscherdrang aus, und abends spielt Papa Kater für die Kätzchen Kasperletheater. Ob bei Bärs, Schweins, bei den Enten, Affen oder Löwen, am Ende jeder Doppelseite geht es darum, in den Schlaf zu finden. Schade wäre es aber, das intensiv bebilderte Buch deshalb als reines Gute-Nacht-Bilderbuch zu kategorisieren. Denn drei der vier Verse erzählen, was Tierkinder jeweils tagsüber umtreibt, was sie erleben und wie sie tätig sind. Und wie der vierte, der Gute-Nacht-Vers, vermitteln sie das äußerst unterhaltsam, charmant und liebevoll. Dass dabei in den allerliebsten und humorvollen Illustrationen viele Papas im Spiel sind, erfreut ebenso wie die Detailfreude der Bildgestaltung.
Frantz Wittkamp versteht es wunderbar, sinnige und unterhaltsame kleine Texte zu dichten, die manchmal scheinbar einfach daherkommen, gleichzeitig aber überraschende Glücksmomente und Sprechlust vermitteln. Gereimte Texte sind ihrer Natur nach ja dazu da, gesprochen zu werden. Deshalb können Vorlesende und Zuhörende begeistert den Reim und Rhythmus dieser Texte pflegen, animieren sie doch regelrecht dazu, vielfach genutzt und wiederholt vorgelesen oder vorgetragen zu werden. Kinder genießen die gereimten Vierzeiler. Sie sprechen sie mit und in ihrer Lust sie für sich verwenden zu wollen, auch meistens bald selbstständig.
„Wenn die Bären schlafen müssen“ beweist, wieder einmal, dass Reim und Rhythmus erste Speichermedien für Sprache sind - die illustrierten Vierzeiler von Frantz Wittkamp verwandeln sich wunderbar leicht in frohsinniges, lyrisches Sprechvergnügen.
Die Gestaltung des Buchs eignet als Vorlage für ein „Laufbilderbuch“. Dazu werden einzelnen Seiten kopiert, eventuell laminiert und in Sichthöhe der Kinder an der Wand befestigt. Kinder können somit an der Wand entlanglaufen und sich mit den einzelnen kleinen Geschichten beschäftigen. Beispielsweise können dann die vier Bildfolgen zur Geschichte „Wenn kleine Löwen müde sind“ als Anlass zur gemeinsam Kommunikation über das Geschehen genutzt und versprachlicht werden. Ergänzend dazu werden die abgebildeten Ereignisse in der in Reimform verfassten Sprache vorgetragen. Es empfiehlt sich, das „Laufbilderbuch“ mit einigen Doppelseiten zu beginnen und von Zeit zu Zeit eine neue Seite hinzuzufügen.
Frantz Wittkamp/Julia Wittkamp: Wenn die Bären schlafen müssen.
Hamburg: Carlsen, 2015, 22 Seiten | € 9,99 | ab 2
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Federkleid und Flügel - Vogelkunde in Reimen (Juli 2015)
„Kuckuck da“ ist für viele Kinder eine der ersten kommunikativen Spielerfahrungen. Kinderlieder wie „Alle Vögel sind schon da“ oder „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“ vermitteln bereits etwas mehr Vogelkunde, und wenn die Faszination an der gereimten Sprache ins Spiel kommt, lernt das Kind oft die „Die drei Spatzen“ Erich, Franz und Hans, die Christian Morgensterns Gedicht bevölkern, kennen. Die gefiederte und geflügelte Spezies bringt früh literarische Freude ins Kinderleben, und wird auch von klein auf wahrgenommen. Kinder begeistern sich für das Wesen der Vögel, sei es ihr munteres Gezwitscher oder ihre Fähigkeit zu fliegen, eine Kunst die Menschen schon immer fasziniert hat. Und irgendeinen Vogel gibt es meistens zu beobachten. Dafür sorgen mehr als 9500 Vogelarten, die praktisch überall leben - in der Wüste genauso wie in Wäldern, an Flüssen oder in Städten.
Daher mangelt es nicht an Sachbüchern, die Wissenswertes über das Verhalten, die Nahrungsgewohnheiten und andere Gepflogenheiten von Vögeln enthalten.
Dass dies aber nicht im Fokus dieses Buches steht, eröffnen schon eingangs gestellte Fragen wie: „Können Vögel Engel sehen? Ist der Morgenstern ihr Freund? …Schlafen sie auch wenn sie fliegen, oder nur auf einem Baum? Mögen sie auf Wolken liegen? Singen Vögel nachts im Traum?“
In wohlklingenden Versen wird vermittelt, dass der Kukuck der einzige Vogel ist, der seinen Namen weiß, der Zaunkönig in jedes Mauseloch passt oder die Eule riesengroßen Appetit auf Mäuse hat. Zu Reim und Rhythmus gesellt sich die ungemein interessante Lautmalerei, die die Sprache der Vögel ausmacht. Da wird mit Lauten gespielt und Musik gemacht: „Jüh, jik, jik! … duk-duk, tix-tix, zilp-zalp, di-ditt, … und alle Vögel singen mit.“
Derartige Lautabfolgen wollen exakt erhört werden, wenn es um die eigene Reproduktion von Lauten geht. So werden die Vögel ungewollt Sprachförderer und regen an, mit den Lauten unserer Sprache zu spielen. Wenn kleine Finken im weichen Nest ihre riesigen Schnäbel aufreißen, wird das lyrisch rhythmisiert erzählt: „... und schon ist ihr Schrei zu hören: „Futter, Futter, Futter her! Würmchen, Käfer, mehr, mehr, mehr!“ Ob Amsel, Kuckuck oder Specht, Huhn, Storch oder Papagei alle werden bedacht mit farbstarken und detailtreuen Illustrationen, die die Wirkung der lyrischen Texte wunderbar verstärken.
Es ist die gelungene Mischung von anmutenden Bildern und gereimter Sprache, die einnimmt für dieses Buch. Diese literarische Zuwendung zum gefiederten Volk schafft bei Kindern und Erwachsenen ein grundsätzliches Wohlgefühl und das taugt sehr gut dazu, Interesse am Tier zu wecken und die Vögel kennenlernen zu wollen. Vielleicht wird dann ein Vogelhaus gebaut und gemeinsam beobachtet, welcher Vogel da einzieht und wie er lebt.
So elegant und leicht wie viele Vögel sich durch die Luft bewegen, so bewegen sich Text und Bilder durch die Vogelwelt. „Sing, sang, Zwitscherklang“ ist ein Bilderbuch, das für besonderes Vorlesen mit sprachschönen Klang- und Lauterlebnissen sorgt und mit seinen naturverbundenen Illustrationen begeistert.
Iris Schürmann-Mock/Christiane Fürtges: Sing, sang, Zwitscherklang. Die Vogelwelt in Versen.
Freiburg: Christopherus 2015, 48 Seiten | € 12,99 | ab 4
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Von Zauberlehrlingen, Birnbäumen und reisenden Ameisen – eine lyrische CD (Juni 2015)
Dass Kinder Sprachklang, Sprachrhythmus und Reim erleben, ist entscheidend für die spätere Literarisierung. Kinder, die noch keine Schriftzeichen dechiffrieren können, leben in einer stark mündlich geprägten Kultur und somit regt das Hören von Texten auch zum betonten und melodischen Sprechen an. Insbesondere Gedichte leben intensiv durch ihre Klangstrukturen. Die meisten Gedichte sind Hörliteratur und nicht Leseliteratur. Somit können auch qualitativ sorgfältig produzierte Lyrik-CDs Kinder dazu ermutigen ihre eigene Stimme variationsreich einzusetzen.
Wie vielfältig das Spektrum der Lyrik ist vermittelt die CD „Die schönsten Gedichte für Kinder“, die mit Gedichten von Heine und Morgenstern, Ringelnatz, Eichendorff und anderen großen Dichtern, reichlich Zuhörvergnügen bereitet. In dieser Lyrik begegnet das Kind der Welt. Natur und Tier, Abenteuer und Zwischenmenschliches, Freude und Streit, - die vierundvierzig Aufnahmen zeigen, dass kaum ein Thema undenkbar ist.
“Der Schnupfen” von Christian Morgenstern, setzt auf Lautmalerei, in “Fink und Frosch” wird kräftig rivalisiert während “Der Handschuh” von Friedrich Schiller dramatisch Ereignisse aus der Welt der Ritter erzählt, oder Fontanes “Herr von auf Ribbeck im Havelland” auf wunderbar rhythmische Weise Wahrnehmungen und Empfindungen zu Tod und Leben verdichtet. „Die Heinzelmännchen zu Köln“ lassen erspüren was eine Ballade ausmacht, die „Wünschelrute“ von Eichendorff vermittelt die Kraft des Zauberworts und „Das ästhetische Wiesel“ gibt Einblick in die Kunst des Reimens.
Ihren vielfältigen Gebrauch fordert die Lyrik geradezu heraus. Da wird mehr als die Welt beschrieben. In den Gedichten dieser CD wird unterhalten, erklärt und belehrt, gefühlt und gelebt, getanzt und bewegt. All das zaubert die Sprache vor und ist der Grund, warum Kinder nicht ohne Lyrik aufwachsen dürfen.
Abwechslungsreich und in vielen Klangfarben werden die Gedichte von einer Vielzahl renommierter Schauspielerinnen und Schauspieler, bekannten Sprecherinnen und Sprechern von Hörbüchern vorgetragen. Die Gestaltung mit wenigen Instrumentalklängen unterstreicht die Wirkung der Aufnahmen.
Lyrik ist Bestandteil unsere Kultur, eine Form von Literatur, Spracherfahrung und sprachlicher Bildung, die wir Kindern nicht vorenthalten dürfen. Gedichte, Reime und Lieder sind für Kinder der Schlüssel zu Welt und Sprache. In der Lyrik erleben Kinder, wie Sprache als Bedeutungsträger, als Bildanreger und als Klangvergnügen eine harmonische Verbindung eingeht. Sie lieben das Jonglieren mit Wörtern, Klangfarben, Rhythmen und Pausen, sie brauchen Gedichte um ihre Vorstellungen und Phantasien zu beflügeln, ihre Erlebnis- und Verstehensfähigkeit zu intensivieren
„Die schönsten Gedichte für Kinder“ bietet mit ihrer Auswahl und Inszenierung wunderbare lyrische Hörerlebnisse, die Kinder und Erwachsene auch bestens gemeinsam genießen können.
Lyrik kreativ gestalten
Gedichte sollte man sprechen und anderen dabei zuhören. Kinder bekommen sie vorgelesen, von Sprechern der CD und von Erwachsenen vorgetragen, und bald sprechen sie das Gehörte und Erlebte mit und können einen Vers auch alleine wiedergeben.
- Zu Gedichten wird gemalt, Musik gemacht. Ihr Vortrag wird mit Klanginstrumenten untermalt.
- Gedichte kann man in Szene setzen: man kann zeigen, wie „Die drei Spatzen“ aus dem Gedicht von Christian Morgenstern in ihrem Nest hocken und was dann geschieht.
- Mit jüngeren Kindern kann das szenische Spiel zum Gedicht fotografiert werden. Der Text wird groß auf ein Plakat geschrieben, die Bilder werden dazu geklebt - und das Ganze an die Wand gehängt.
- Mit älteren Kindern kann zu dem Gedicht ein Videoclip aufgenommen werden, der das Besondere des Textes ausdrückt.
- Die Kinder, sprechen Gedichte und nehmen sie digital oder mit dem Kassettenrekorder auf.
- Gedichte werden auf einer kleinen Bühne ausgestellt: Dinge, die darin erwähnt werden oder die darin vorkommenden Symbole werden auf ein Tuch drapiert, der Text liegt dabei: auf ein schönes Papier geschrieben in einem Schraubglas, oder in einem Rahmen präsentiert.
- Gedichte werden fester Bestandteil im Alltag und der Festgestaltung: dem Geburtstagskind wird ein Gedicht geschenkt, der Adventskalender enthält Verse und Gedichte, im Morgenkreis gibt es täglich Gereimtes zu hören, das Gedicht der Woche wird vorgelesen.
- Kinder verschenken Gedichte, indem sie diese jemand vorsprechen und den verschriftlichten Text in einer Schachtel oder Dose überreichen.
Die schönsten Gedichte für Kinder.
Hamburg: Jumbo Neue Medien und Verlag 2015| 44 Minuten| Gesprochen von: Katharina Thalbach, Stefan Kaminski, Dietmar Wunder, Julia Nachtmann u.v.a. |Produktion: Ulrich Maske | € 10,99 | ab 5
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Anderssein - überraschend anders (Mai 2015)
Ein Baum allein auf weiter Flur und oben im Baum ein Nest. Im Nest, da tut sich was. Die Rabeneltern beobachten, wie sich krakelige Risse in den Eiern zeigen. Spitze Schnäbel durchbrechen grünliche Schalen, aus dem rosaroten Ei aber greift eine kleine Hand. So wird Rabenrosa geboren. Die Eltern nehmen die Kinder unter ihre Flügel und füttern fleißig in die weitaufgerissenen Schnäbel. Das kleine Menschenkind wächst und gedeiht wie seine gefiederten Brüder und Schwestern. Weil es ihm immer so kalt ist, besorgt der Rabenvater ein Kleid und eine rote Mütze für sein Kind. Die Rabenmutter besorgt den Namen und nennt das Menschlein Rosa. Das Leben ist schön, oben im Rabenbaum. Die Vogelwelt aber verreißt sich die Schnäbel, starrt ins Nest und starrt auf Rosa, die deswegen realisiert, dass sie so ganz anders ist als ihre Geschwister. Während denen Flügel und Federn wachsen, ihre Rabenstimmen rau und krächzig werden, erlebt Rosa, dass ihr nichts hilft so zu werden wie Rabenvögel eben sind. So lebt sie als Menschenkind weiter im Rabennest. Anders, aber angenommen und geliebt. Ihre Geschwister sind bereits flügge, als sie mit ihren Eltern in den Süden aufbricht. Eine aufregende Flugreise, getragen auf den Flügeln von Mama und Papa, bringt sie auf einen neuen Baum. Auf dem gibt es wieder ein Nest, in dem bald neue Rabengeschwister schlüpfen werden. Rosa aber kann zwischenzeitlich so gut klettern, dass auch sie Futter für die Jungen besorgen wird. Und Rudi, der Frosch aus dem See, wird ihr das Schwimmen beibringen. Wie ihr neuer Freund sie fragt, was sie denn eigentlich für eine sei, sagt sie laut krächzend: „Ich bin die Rabenrosa!“ Und weil es ihr so richtig gut geht, malt sie sich auf dem Heimweg zum Nest wunderbar detailliert aus, wie das am nächsten Tag sein wird, im Wasser, zusammen mit Rudi und dem Schwimmen lernen.
Oben im Baum, angesiedelt bei den Schwarzfedrigen wo man es nicht vermutet, wird verständlich, dass Anderssein kein Grund zur Misere sein muss. Helga Bansch hat mit Rabenrosa eine Parabel geschaffen, die uns deutlich und beschwingt zeigt, dass der Glaube an die eigenen Fähigkeiten Flügel verschaffen kann, insbesondere wenn man angenommen und geliebt wird. Rabenrosa ist eine hinreisende Protagonistin, die knallrote Baskenmütze ein keckes Symbol ihrer Ich-Stärke. Das Kind aus dem Rabennest lehrt, dass man auch als Anderer sein Selbstverständnis finden und leben kann, ohne seine Herkunft aus dem leugnen oder vergessen zu müssen. Rabenrosas Menschlichkeit macht sie in der Welt der Rabenvögel keineswegs zum Unglücksraben, vielmehr wird sie durch ihre Resilienz zu einer offenen und selbstbestimmten Persönlichkeit. Helga Bansch erzählt ihre Geschichte in kunstvollen gezeichneten und collagierten Illustrationen. In Ausschnitten und vielseitigen Perspektiven wird herangezoomt und Überblick geschaffen auf das Werden und Gedeihen dieses Kindes. Bildabfolgen zeigen, wie Rosa ihre Stimme rabengleich trainiert oder wie sie letztendlich grasgrün daherkommt, da sie zunächst die Ratschläge ihrer Umgebung befolgt, die Anpassung propagiert. Gelungen wird ins Bild gesetzt, wie die Vogelwelt mit dem Anderen umgeht und darüber redet.
Helga Bansch bringt in ausdrucksstarken Bildern eine rabenrosa Leichtigkeit in den Tiefsinn der Geschichte, die in Wort und Bild berührt und aufzeigt, dass es gut tut sich selbst zu sein. Ein Bilderbuch mit Glücksgefühl in Rabenschwarz und Rabenrosa.
Die Struktur der Geschichte ermöglicht unschwer diese Erzählung fortzuschreiben. Das Zusammentreffen von Rudi und Rabenrosa kann als Impuls dienen, dass sich Kinder ausdenken wen Rosa noch kennenlernen könnte und was sie mit diesen Protagonisten erleben werden wird.
Zum einen können diese Erlebnisse so ins Bild gesetzt werden wie Helga Bansch die letzte Szene im Buch gestaltet: in einer Bildtafel, die als Storyboard in mehreren kleinen Bildern zeigt, wie das Geschehen (hier das Schwimmen lernen) phasenhaft abläuft.
Zum anderen können diese selbstausgedachten Szenen versprachlicht werden. Diese vom Kind in Sprache gefassten Erlebnisse werden von einem Erwachsenen aufgeschrieben.
Auf diese Art entsteht ein selbstgestaltetes Bilderbuch, das über Rabenrosas neue Abenteuer berichtet.
Überwiegend wird das Geschehen im Bilderbuch aus der Sicht eines allwissenden Erzählers berichtet. „Die Rabenrosa“ aber macht Kinder mit dem Stilmerkmal des Ich-Erzählers bekannt: „ Na und?“, dachte ich, bin ich eben anders. Und sollen die nur reden, was kümmert es mich!“ Rosa erzählt die Geschichte selbst, aus der Innenperspektive, aus ihrer eigenen Sicht. Sie erzählt ihre Geschichte also in der Form, in der Kinder sprechen wenn sie von Geschehenem berichten. Dieser dekontextualisierte Sprachgebrauch unterscheidet sich vom situativen Sprechen und benötigt reichlich Übungssituationen. „Die Rabenrosa“ bietet sich dazu an, bei der Vorstellung des Buchs zu erwähnen, dass man eine Geschichte vorliest, in der ein Mädchen selbst erzählt, was es erlebt hat.
Helga Bansch Rabenrosa.
Wien: Jungbrunnen 2015, 32 Seiten| € 14,95 | ab 4
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Rotkäppchen - eine märchenhafte Gestaltung der besonderen Art (Apr 2015)
"Es war einmal eine kleine süße Dirne*, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen."
Jacob und Wilhelm Grimm
* "Dirne" hieß im damaligen Sprachgebrauch ein sehr junges Mädchen
Das Märchen vom Rotkäppchen, das vom rechten Weg abkommt und vom Wolf gefressen wird, gehört zu den populärsten Volksmärchen der Gebrüder Grimm. Sicherlich liegt das auch an der sehr dramatische Situation, wie das Rotkäppchen dem Wolf im Bett der Großmutter begegnet, und an jenen drei bekannten Fragen, die das kleine Mädchen stellt. Meist zählt es zu den ersten Märchen, die Kinder hören und die ihnen Zugang zur Literatur und Erzählkultur schaffen. Die Geschichte des kleinen Mädchens, das der Großmutter Kuchen und Wein bringt und vom Wolf gefressen wird, ist es eines jener Märchen, in denen sich die Kinder mit ihren Fragen und Gefühlen wiederfinden können. Wie die anderen der bekannten Grimmschen Märchen, beispielsweise „Hänsel und Gretel“, „Dornröschen“ oder „Aschenputtel“, eröffnet es Kindern die Möglichkeit, unbewusst Situationen und Probleme ihrer individuellen psychischen Entwicklung zu bearbeiten, aber auch Vertrauen in die Welt zu gewinnen, Gutes von Bösem unterscheiden zu lernen und mit eigenen Ängsten und Aggressionen umzugehen. Märchen bieten durch ihre einfache Form und ihre bildhafte Sprache Kindern Möglichkeiten zur Identifikation und auch in 99% aller Fälle positive Lösungen an.
Es gibt also reichlich Gründe, Märchen in der Kitazeit vorzulesen und sie zum Gegenstand gemeinsamer ästhetischer Erfahrungen zu machen.
Werden Märchen ins Bilderbuch umgesetzt, sollten die Bilder so gestaltet sein, dass sie Kindern Impulse bieten, sich die Figuren und Handlungsorte in ihrer eigenen Fantasie vorzustellen und auszumalen.
In diesem Bilderbuch ist die Geschichtenwelt von "Rotkäppchen" in Form eines Leporellos gestaltet. Auf dreizehn Blättern hat die Illustratorin Clémentine Sourdais wesentliche Szenen des Märchens umgesetzt. Wie bei einem Scherenschnitt sind Figuren und Kulissen aus festem Karton ausgeschnitten, was den Abbildungen einen besonderen Zauber vermittelt: filigran und schwebend muten die Szenen des Leporellos an, was durch die farbliche Beschränkung auf kontrastreiches Rot und Schwarz, ergänzt durch einen Grauton, zusätzlich unterstrichen wird. Die Rückseite des Leporellos zeigt die Szenerie komplett in schwarzer Farbe und hebt das Zauberhafte und Übernatürliche "Es war einmal…" der Märchenwelt hervor.
Mit diesen dreizehn wunderbaren Bildern kann die Handlung und die Botschaft von "Rotkäppchen" wirkungsvoll erzählt oder vorgelesen werden. Besonders viel Zauber entsteht wenn Licht ins Spiel kommt: wird eine Lampe angeknipst, verwandelt sich der Scherenschnitt in ein Schattentheater. Dann zeigt sich der Wolfsschatten samt spitzer Zähne oder die Silhouette des körbchentragenden Rotkäppchens an der Wand. Der Schatten erhält die ursprüngliche Form der Bilder und ermöglicht den Kindern, sich Figuren und Kulissen auf der Folie eigener Phantasien vorzustellen. Diese Technik bringt den Bezug zum Wunderbaren und Märchenhaften in besonderer Weise zur Geltung und macht das Märchen zur Bildkunst, die ein besonderes Erleben von "Rotkäppchen" ermöglicht.
Clémentine Sourdais/nach Jacob und Wilhelm Grimm: Rotkäppchen.
Berlin: Kleine Gestalten 2014, Leporello 13 Blätter| € 12,95 | ab 4
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Heroischer Charakter in selbstloser Mission (März 2015)
Superhelden schwingen sich durch die Lüfte – ihre Mission ist die Bekämpfung des Bösen. Super Neo ist irgendwo zwischen klein und groß, er ist übernatürlich stark und clever. Wohnhaft ist der kleine Große auf dem Planeten KX-5211, sein bester Freund ist der nahezu geniale Erfinder Professor Perkosinus, der eine Katze hat und Kaugummi über alles schätzt.
Super Neo trägt, in Anlehnung an Superman, einen scharlachrot glitzernden Umhang mit geheimen Kräften, dazu einen Gürtel voller Sternenkraft und ist deshalb auch wahnsinnig schnell auf der Erde, wenn dort ein Kind seine Hilfe benötigt. So wie Flo, der Angst hat, von einem Baum in den Badesee zu springen. Super Neo kann ihn überzeugen, dass es im Wasser keine Monster gibt und leiht ihm seinen Tempomaten, der verhindern kann, dass Flos Sprung klatschend im Wasser endet. Am Tag der großen Mutprobe muss Flo mit dieser Wunderwaffe und Seite an Seite von Super Neo den Angeber Paul aus großer Gefahr retten. Und als der dann verspricht nie wieder Flo als Schisser zu bezeichnen kann sich Super Neo getrost zurück ins Universum begeben. Dort kocht ihm Professor Perkosinus galaktische Nudeln und freut sich über den von der Erde mitgebrachten Kaugummi.
Helden werden meist dann geliebt, wenn sie trotz ihrer übernatürlichen Stärke menschlich wirken. Denn genau diese Eigenschaft ermöglicht dem Leser, sich mit dem Helden zu identifizieren. Deshalb hat Super Neo beste Chancen eine treue Leserschaft zu finden.
Eine geschlechtersensible Pädagogik schließt mit ein, dass Mädchen und Jungen sich in der Literatur wiederfinden und mit ihren Heldinnen und Helden identifizieren können. Auch wenn Jungs meist ein anderes Leseverhalten zeigen als Mädchen und sich intensiv dem Sachbuch zuwenden, greifen sie durchaus gerne zum erzählenden Bilderbuch wenn sie passenden Lesestoff finden. Mit spannenden, abenteuerlichen Geschichten und männlichen Identifikationsfiguren wächst die Begeisterung für das erzählende Buch.
Text und Bild dieser Geschichte einer selbstlosen und heroischen Mission sind vielfältig miteinander verbunden. In den doppelseitigen Illustrationen finden sich sowohl typische Gestaltungselemente des Bilderbuchs als auch Anleihen an Comics in Form von Sprechblasen und aufgeteilten Bildabfolgen. Den Protagonisten dieser abenteuerlichen Welt bringt uns ein comichafter Strich nahe, der gestalterische Gesamteindruck entspricht trotzdem dem Wesen des Bilderbuchs.
Typographische Elemente, die einzelne Worte aus dem Fließtext herausheben, rücken das Wesen der Schrift augenfällig ins Bild und unterstützten Kinder, sich mit der Symbolfunktion der Schrift zu beschäftigen. Worte, in Großbuchstaben gesetzt, sind unter Literacy-Aspekten interessant: Sie regen Kinder an, sich mit der Form eines Zeichens zu befassen und bei Lust und Laune dient dann „HIER KOMMT SUPER NEO!“, „AAAH!!“ oder Lautmalerisches wie „BLING“ und „JUPIDOO“ als Vorlage zum Abschreiben der Zeichen, die die Welt bedeuten.
Im Buch finden sich seitlich abgetrennte Bildstreifen, die Gegenstände oder Wesen, die in der Handlung vorkommen auffällig ins Bild setzen - ein Gestaltungselement, das dem erzählenden Bilderbuch einen Hauch von Sachbuch verleiht und zu Gesprächen anregt.
Die letzte Seite stellt das gesamte Personal und wesentliche Gegenstände der Geschichte vor. Werden diese medaillonartigen Abbildungen kopiert und ausgeschnitten, sind sie in der Anschlusskommunikation zur Geschichte ein bildhaftes Element, das variabel einsetzbar die Entwicklung von Textverständnis unterstützen kann: „Wie hat Super Neo den Bremsomat eingesetzt?“ - „Was meinst du, woher haben Zonk und Zarafea, die zwei streitsuchenden Fiesen ihre Krake?“ - „Was, glaubst du, spielen Flo und sein neuer Freund Paul wenn sie sich am nächsten Tag wiedersehen?“
Mithilfe der Bilder lassen sich bestens neue Geschichten von Super Neo ausdenken und erzählen.
Yawo Kawamura/Sibylle Rieckhoff: Super Neo. Die Mutprobe.
Münster: Coppenrath 2015, 36 Seiten | € 12,95 | ab 4
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition "Bilderbuchkino" und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Immer höher - eine Räuberleiter zum Kuchen (Feb 2015)
Weit unten vor dem hohen Haus steht der Bär. Sehnsuchtsvoll blickt er weit nach oben, zu dem Fenster, in dem ein Kuchen steht. Ziemlich unerreichbar - aber er will ihn haben. Wie gut, dass das Schwein hinzu kommt und - „schwupps“ - auf den Kopf des Bären springt. So baut sich Seite um Seite, immer höher und wackeliger, eine tierische Räuberleiter auf. Aber Huhn, Hase und Hund samt Schwein und Bär reichen immer noch nicht heran, an den leckeren Gugelhupf mit Kirsche. Just in dem Moment, indem der Frosch fast den Kuchen erwischt hätte, erscheint im Fenster ein Kind und nimmt den Kuchen weg. Dass letztendlich doch alle Tiere zu einem Stück Kuchen kommen, ist einer der vielen schönen Momente dieser Geschichte.
Kinder erleben in „So weit oben“ eine ganz einfache Art des Erzählens. Klar strukturierte Sätze erzählen mit Wiederholungen, wie sich die Handlung absehbar aneinanderreiht und schlussendlich überraschend wendet. Die Illustration ist genauso schlicht wie trefflich. Auf jeder Doppelseite sind das Haus und das davorstehende Getier an derselben Stelle zu finden. Wer interessiert die Bilder betrachtet, entdeckt eine Amsel, die sich Seite um Seite dem Kuchen nähert und schlussendlich die Kirsche mopst.
Das dem Thema entsprechende Hochformat ist ein gelungenes Gestaltungsmerkmal dieses Pappbilderbuchs. Die äußerst sympathisch ins Bild gesetzte Tiermannschaft, und lautspielerische Sprachsprengsel wie „flitter flatter“ oder „hoppel di hopp!“ sorgen dafür, dass diese Reihengeschichte viel Potential zum Lieblingsbuch hat.
Wiederholte Phrasen, Lautgebilde und Sätze prägen sich bei mehrmaligem Vorlesen schnell ein. So können Kinder den lautmalerischen Part bald selbst gestalten und sind intensiv in die Handlung der Erzählung miteingebunden.
▪ Das Erzählprinzip der Kettengeschichte eignet sich als Vorlage zum Erzählen und kann von Kindern leicht selbst angewendet werden.
Beispielsweise wird die Räuberleiter mit Holz- oder Schleichtieren selbst gebaut. Dabei kann die Geschichte mit anderem Figurenpersonal erweitert oder auch ganz neu formuliert werden.
Zu jedem neu in Erscheinung tretenden Tier wird jeweils eine lautmalerische Begrifflichkeit assoziiert: „Kommt die Ente. Und watschel di watschel springt auf den…“
▪ Die einzelnen Szenen sind ausschließlich auf eine Örtlichkeit bezogen, das Personal der Geschichte ist überschaubar, sodass Kinder den Ablauf der Geschichte sich auch allein auf der Bildebene erschließen können.
Susanne Straßer: So weit oben
Wuppertal: Peter Hammer, 2014, 24 Seiten | € 14,90 | ab 2
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition „Bilderbuchkino” und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Zwischen zwei Welten – ein Huhn geht auf Entdeckungstour (Jan 2015)
Hilde lebt in ihrem gemütlichen Hühnerhaus ein schönes und ruhiges Leben. Bis eines Morgens ein heftiger Herbststurm das kleine Huhn mit einem Windstoß davonträgt und es weit weg von zu Hause, mitten in der Großstadt, landet. Dort ist alles sehr fremd für Hilde: die vielen um sie herumwuselnden, eilig ausschreitenden Menschen, der Trubel der Einkaufsstraßen und die vielen Dinge, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hat. So viel Fremdheit verursacht Heimweh. Hilde fragt nach dem Nachhauseweg, aber die Leute verstehen sie nicht. Eine Sonnenblume ist es, die ihr die Spur zurück weist. Und wie sie beim Aussteigen auf dem Bahnhof die Tauben trifft, zeigen die ihr den Weg in ihren Garten, in dem ihr Haus steht. Dort lebt sie weiterhin glücklich und spielt und plaudert mit den Tauben – es sei denn, sie klemmt sich ihren Regenschirm unter den Flügel und fährt mit dem Zug in die Stadt.
Atmosphärisch dichte Aquarellzeichnungen, teilweise ergänzt durch Fotocollagen, erzählen die Geschichte vom Geborgensein zu Hause und dem Abenteuer in der Fremde. Erfrischend humorvoll, aber auch leise und kitschfrei lassen sich reichlich Bildentdeckungen anstellen und versprachlichen. Der Text ist knapp gehalten, die Illustrationen ergänzen ihn. Das ermöglicht, in einer intensiv bildgestützten dialogischen Betrachtung Kinder in die Sprache kommen zu lassen, ihnen ausreichend Raum für Erzählfreude und Eigenaktivitäten im Gedanken- und Meinungsaustausch einzuräumen. Je aktiver sich der Dialog zwischen Kind und Vorleserin gestaltet, desto mehr werden Kinder wiederholt angebotene Strukturen in ihre eigene Sprachproduktion einbauen. Dies lässt sich beispielsweise unterhaltsam umsetzen mit den sechs Seiten des Buchs, die zeigen, wie Hilde vieles entdeckt, das sie noch nie zuvor gesehen hat. Da sehen wir Hilde beim Rolltreppenfahren, in einem Paar Schuhe stecken, oder vielfach abgebildet auf einer Wand von Bildschirmen.
Einen besonderen Aufforderungscharakter haben die Doppelseiten, auf denen jeweils achtzehn kleinformatige Abbildungen wie im Fotoalbum angeordnet sind. Sie zeigen Szenen aus Hildes Alltag, den Hilde zuerst alleine und nach ihrer Rückkehr aus der Stadt mit ihren neuen Freunden, den Tauben verbringt. Der Text erzählt: „Ob bei Regen oder Sonnenschein, Hilde frühstückte, spielte in ihrem Garten und plauderte mit den Tauben – und das Tag für Tag.“ Die achtzehn Bilder aber zeigen nuanciert diese Tätigkeiten und regen zur differenzierten Benennung und Versprachlichung an. Eine Kopie dieser Doppelseite ermöglicht den Kindern, die achtzehn Abbildungen auszuschneiden, zu kolorieren, zu sortieren und Kategorien wie „Hilde und die Tauben essen, spielen, etc. …“ zu bilden. Die Rückseite des Buchs zeigt, wie eine der Tauben Hilde fotografiert; dieses Bild ist ein Impuls, gemeinsam mit den Kindern das Medium Fotografie zu nutzen: welche Szenen aus ihrem Alltag wollen die Kinder im Foto festhalten? So wird dieses bemerkenswerte Bilderbuch über Hildes Abenteuer Ausgangspunkt zu eigener, aktiver Gestaltung von Bild und Sprache.
Anna Walker: Hilde
München: Lappan 2014, 32 Seiten | € 12,95 | ab 5
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition „Bilderbuchkino” und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Schütteln als literarisches Wohlgefühl (Dez 2014)
Bella geht spazieren und führt ihren Hund aus. Beide zotteln sichtlich vergnügt über die ersten Seiten des Buchs. Wir blättern weiter und sehen nur noch einen halben Hund. Wieder blättern wir weiter - und kaum zu glauben, der Hund ist im Buchfalz verschwunden. Nur die Leine hält die entgeistert dreinblickende Bella noch in der Hand. Sie will ihren Hund wieder herausziehen - aber nichts geschieht. Verständlich, dass Bella ihrem Freund Ben erklärt: „Das Buch hat meinen Hund gefressen!“
Aber auch Ben und die herbeieilende Feuerwehr samt dem Hunderettungsdienst und der Polizei, alle teilen das Schicksal des Hundes. Selbst Bella wird vom Buch verschluckt. Klar dass das Buch den Bauch voll hat und lauthals rülpst. Kurz darauf wirbelt ein mysteriöser Brief über die Straße, in dem wir Leser um Hilfe gebeten werden. Entschlossenes Schütteln des Buchs, so verrät der von der verschwundenen Bella unterschriebene Brief, könne helfen. Das lässt sich insbesondere das zuhörende Kind nicht zweimal sagen, greift nach der Lektüre und schüttelt sie begeistert. Und siehe da: alles, aber auch alles was das Buch gefressen hat, plumpst wieder heraus und fast alles ist wie zuvor…
Dem skurrilen Leseerlebnis steht der retroangehauchte Illustrationsstil gut an. Aus der Comicgestaltung sind die Sprechblase und dynamikverstärkenden Bewegungslinien entliehen. Der graue Hintergrund lässt die rote Schrift samt roter Rettungsfahrzeuge leuchten und dieser Kontrast ist augenfällig in diesem besonderen Buch. Dessen Besonderheit zeigt sich einerseits in einer sehr überzeugenden typographischen Gestaltung und andererseits in der handfesten schüttelbaren Geschichte, die Kindern und Vorleserinnen auf interaktive Weise Lesefreude und sehr unterhaltsame Lektüre bereitet.
Das ist gewollt, denn wer Literatur nutzt und gerne liest, oder wer gerne vorgelesen bekommt, ist leselustig und verschlingt im besten Fall ein Buch nach dem anderen. Damit es soweit kommen kann, braucht das Kind anregende Begegnungen mit Büchern. Denn Leselust und Vertrautheit mit Büchern sind Kompetenzen, die eine literacyerfahrene Persönlichkeit mit definieren. Dass Kinder in die Bücherwelten hineinwachsen und sich wohlfühlen, dafür sorgen eben auch Bücher die ihr Personal auffressen und den Leser als Retter derselben aktiv werden lassen. In diesem Sinne: gut geschüttelt ist der Weg in die Literatur für das Kind besonders angenehm.
Richard Byrne: Hilfe, dieses Buch hat mein Hund gefressen!
Weinheim: Beltz & Gelberg 2014, 32 Seiten | € 12,95 | ab 4
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition „Bilderbuchkino” und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Im Dialog über einen außergewöhnlichen Besucher (Nov 2014)
Es gibt kaum einen Tag, an dem es nichts zu erzählen gibt. Manchmal genügt ein Blick in den Flur - und ein Bär steht vor der Tür. Diese Entdeckung seiner Mama zu vermitteln erfordert Erklärungen und Dialog. So so, ein Bär. Ja, wie kommt der denn in den elften Stock? Er hat den Fahrstuhl genommen. Den Fahrstuhl? Ja, und er hat den Knopf gedrückt, sonst fährt der Fahrstuhl nicht. In die Stadt ist er mit dem Bus gefahren und mit seinem Fahrrad zur Bushaltestelle. Denn er wollte aus seinem Wald raus weil er von unserem Fenster aus das Meer sehen will. Und geht er wieder, wenn er das Meer gesehen hat? Nein, erst will er Honigkuchen und Schwarzwälder Kirschtorte, denn im Wald, da bäckt ihm doch keiner was.
Unmissverständlich erzählt die Geschichte von zweien die nicht zusammen sind, aber zueinander kommen wollen.
Und unübersehbar stehen sich dabei gegenüber: Das rationale sachliche Alltagsverhalten Erwachsener und die überbordende Phantasiewelt der Kinder. Manuela Olten hat dies in heiteren Bildern mit reichlich Tiefgründigkeit umgesetzt. Beim Bilderlesen gibt es Grund zum Nachfragen, Hintergründe vermuten und Gedanken fassen. Der Mutter-Sohn Dialog fordert die stimmliche Kostümierung heraus, und sorgt dafür, dass das Vorlesen des Textes sich wunderbar inszenieren lässt.
Acrylfarben bringen das Bildspiel des knopfäugigen Kindes und seiner Mutter so zum Ausdruck, dass der Zuschauer die Gefühle und das Wesen der Protagonisten mitempfinden und erspüren kann.
Geblümt und gestreift, kariert und gepunktet – Manuela Oltens Leidenschaft für Muster regt zur besonderen Betrachtung und deren Versprachlichung an. Originelle Details, wie Fotos an den Wänden, dienen immer auch dazu, eine Situation zu deuten und Befindlichkeit zu vermitteln. Die Illustrationen geben viele über den Text hinausführende Impulse zum Nachsinnen über die inneren Konflikte dieses Kindes im Umgang mit seiner familiären Situation.
Es ist nichts Unnormales einen Phantasiegefährten zu haben. Unsichtbare Freunde sind ein Phänomen der frühen Kindheit. Wie gut, dass die kindliche Phantasie ein wichtiger Bereich der Entwicklung ist und diese Form kindlicher Bewältigungsversuche dazu dient, eigene Erlebnisse zu bearbeiten, damit Ängste überwunden werden können und der Umgang mit intensiven Emotionen möglich wird.
Das Kind setzt hier durch seine Sprache etwas in die Welt, auf das der Erwachsene nicht zugreifen kann. Aufmerksam fragt die Mutter nach - und diese dialogische Kommunikation vermittelt die phantasievollen Erlebnisse des Kindes. Diese Situation lässt sich auf die sprachliche Bildung übertragen: Als kompetente und interessierte Zuhörerin können wir Kinder unterstützen Erlebtes zu formulieren, sie durch Fragen und Spiegelung ihrer Äußerung zum Weitererzählen ermutigen. Unsere Neugier und unser Interesse ist die wichtigste Anregung für das kindliche Erzählen. Erzählerische Fähigkeiten erfordern eine aus dem Kontext genommene Sprache und setzen das Verstehen und Konstruieren von Geschichten voraus: einer der Gründe, warum sprachliche Bildung und Förderung immer Geschichten braucht.
Wer Kindern auf Augenhöhe begegnet, an ihren Sichtweisen, Fragen und Theorien wirklich interessiert ist und sich mit ihnen in Dialoge begibt, zeigt ihnen Anerkennung an ihrer Person. Und das motiviert Kinder, Sprache zu gebrauchen.
Die Geschichte des Bären, der das Meer in den Blick nehmen will, erweist Kindern und Erwachsenen einen wunderbaren „Bärendienst“, indem sie dialogorientiert die Kraft der Sprache und der Phantasie ins Bild setzt.
Sabine Lipan/Manuela Olten(Ill.):
Mama, da steht ein Bär vor der Tür!
München: Tulipan 2014, 32 Seiten | € 14,90 | ab 5
Sylvia Näger, Freiburg;
Diplom-Medienpädagogin. Dozentin in der Aus-und Fortbildung von Grundschullehrenden, Erzieherinnen und Bibliothekaren. Lehrtätigkeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Literacy, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik und Medienpädagogik.
Langjährige Herausgeberin der Edition „Bilderbuchkino” und Autorin pädagogischer Fachbücher.
Delphine Bournay: Krümel und Pfefferminz – Allerbeste Freunde. (Okt 2014)
Sprachbilder mit Humor und Tiefgang
Allerbeste Freunde erleben zusammen, was es ausmacht die Welt zu entdecken: Krümel, ein kleiner gelber Hase, und Pfefferminz, ein etwas größerer grüner Frosch, befinden sich in stets engagierter und oft humorvoller Kommunikation über Alltägliches, Besonderes und Spezielles.
Ihre Erlebnisse werden in kleinen überschaubaren Szenen cartoonartig ins Bild gesetzt und in Dialogen vermittelt, die durch kurze Erzähltexte ergänzt sind.
Vier Kurzgeschichten erzählen von den emotionalen Sorgen und Freuden der Beiden, rücken die lyrische Sprache ins Blickfeld und beleuchten Fragen des Lebens philosophisch und unterhaltsam. Immer geprägt von der Prämisse: „Ein Freund, ein guter Freund, ist das Beste was es gibt auf der Welt …”
Hört Krümel nachts Geräusche und traut sich nicht aus seinem Bett, dann malt Pfefferminz mit ihm die Nacht. Hängt schließlich ein gänzlich schwarz bemaltes Blatt über Krümels Bett ist die so bearbeitete Nacht beruhigend gebändigt und die Angst überflüssig. Ihre Lust an der Lyrik entdecken die zwei an einem freundlichen Junimorgen. Pfefferminz dichtet und ist derart von der Natur beseelt, dass er 57 Titel für seine Gedichte findet. Krümel organisiert schnell einen großen Dichterabend. Obwohl dieser etwas speziell verläuft, beschwört er seinem lyrischen Froschfreund, dass es der allerschönste war, den er je besucht hat.
Ein Hut mit Obstsalat gibt den Zwei zum Anlass für Selbstvertrauens- und Abgrenzungsübungen, bei einem Spaziergang im Mondenschein rückt Krümel die ewig aktuelle Menschheitsfrage: wer wen wie lieb hat, ins Zentrum des nächtlichen Unterwegsseins.
Delphine Bournays so leicht auf das Papier gezeichnete Figuren sind sympathische und mitreißende Wesen. Am Ende jeder Kurzgeschichte ist viel passiert und Krümel und Pfefferminz spiegeln Nöte und Erfahrungen, Herausforderungen und Gefühle, die jedes Kind kennt. Durch ihren überschaubaren Umfang sind die Geschichten von Krümel und Pfefferminz Texte, die vielfältig erlebbar sind. Sie eignen sich sowohl zum Vorlesen und gemeinsamen Lesen mit Anschlusskommunikation als auch zum szenischen Spiel.
Vielfältige Literacy-Erfahrungen sind zusätzlich möglich: Eine wesentliche Aufgabe in der Sprachentwicklung ist die Entwicklung der Dialogfähigkeit, das Abwechseln von Zuhören und Vokalisieren. Kinder entdecken beispielsweise, dass der Dialoganteil jeder Figur in einer anderen Farbe gestaltet ist. Krümels Aussagen sind in gelber, die von Pfefferminz in froschgrüner Schrift gesetzt. In Verbindung mit dem schwarz gesetzten Erzähltext ergibt sich dadurch für Kinder unwillkürlich ein Eindruck zur Struktur von Geschichten. Diese Gestaltung unterstützt auch die Vorleserin wenn sie stimmlich in die Figuren schlüpft und dem Erzähltext durch Klangfarben, Tonhöhen und Lautstärken eine spezielle Aura gibt.
Die Umsetzung der Geschichten in ein Hörspiel liegt damit förmlich auf der Hand. Insbesondere die Bearbeitung der Geschichte „Die Nacht”, in der sich wunderbar schauerliche Töne, die Original-Geräusche einer Malaktion und spannende Musikklänge mit Sprache verbinden lassen, bietet Kindern kreative Sprach- und Literacyerfahrungen in der Hörspiel-Produktion.
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Delphine Bournay: Krümel und Pfefferminz
Allerbeste Freunde.
Aus dem Französischen von Julia Süßbrich
München: Hanser 2013, 72 Seiten | € 7,90 | ab 5
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