Interview mit dem Bürgermeister von Lviv

„Never give up!“ – Niemals aufgeben!

Andrij Sadovyi mit offenen Händen
Dank an alle Freiburgerinnen und Freiburger: Die Unterstützung der deutschen Partnerstadt sei konkret und spürbar, sagt Bürgermeister Andrij Sadovyj.  (Foto: Spielgelhalter/Stadt Freiburg)

Zum ersten Mal seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 kam Lvivs Bürger­meister Andrij Sadovyj kürzlich nach Freiburg, um gemeinsam mit Oberbürgermeister Martin Horn den Markt der Partnerstädte zu eröffnen. Was die Partner­schaft mit Freiburg für Lviv in Zeiten des Kriegs bedeutet und wie es den Menschen dort nach mehr als zwei Jahren Krieg geht, darüber sprach Sadovyj in einem Interview mit der Amtsblatt-Redaktion.

Bürgermeister Sadovyj, wie ist aktuell die Situation in Lviv?

Die Situation dort ist sehr schwierig. 3000 unserer Bürger sind derzeit an der Front. Jede Familie hat jemanden in den Krieg geschickt, und jeden Tag haben wir Beerdigungen in Lviv und kümmern uns um Verwundete. Wir haben ein großes Krankenhaus mit 200 000 Quadratmetern und 3000 Betten – von denen sind aktuell alle belegt. Ich überlege die ganze Zeit, wo wir noch Verwundete unterbringen können. Nur die Unterstützung von Freiburg, unserer anderen Partnerstädte und der deutschen Regierung gibt uns neues Potenzial. Freiburgs Bürgermeister war der Erste, der nach der russischen Invasion nach Lviv kam und meine Stadt unterstützte.

Lviv liegt im Westen der Ukraine, weit weg von der russischen Grenze. Wie ist die Lage dort, verglichen mit dem übrigen Land?

Lviv ist sicherer als viele andere Städte in der Ukraine. Wenn man die aktuelle Situation dort mit der in Freiburg vergleicht, ist sie auf den ersten Blick ganz ähnlich: In der Innenstadt sind viele Menschen unterwegs, die Res­taurants, Museen und Theater sind geöffnet, die Kinder gehen zur Schule. Aber auf der anderen Seite haben wir jeden Tag Sirenenalarm und müssen Schutzräume aufsuchen. Letzten Monat hat Russland die Region rund um Lviv drei- bis viermal mit Raketen beschossen. Wir haben dort kritische Infrastruktur, etwa große Gastanks, die Russ­land immer wieder angreift. Aber wir leben unser Leben weiter. Es ist nicht leicht, aber wir müssen. Wir begreifen es als unsere Pflicht, unsere besondere Mission. In der Ukraine verteidigen wir heute nicht nur unsere Unabhängigkeit, sondern die demokratischen Werte.

Wie geht es den Menschen in Ihrer Stadt?

Nach Covid kam die russische Invasion. Das bedeutet: In den letzten vier Jahren hatten wir ständig Stress. Kinder, Frauen, ältere Menschen – alle leben seit vier Jahren unter Stress. Aber der Krieg bündelt unsere Energie, und wir konzentrieren uns auf unseren Sieg und darauf, die ukrainische Armee zu unterstützen. Dafür geben wir zehn Prozent des städtischen Budgets aus. Jede Woche kaufen wir militärisches Gerät und Ausstattung. Wir haben aufgehört, Straßen zu sanieren oder Gebäude wiederaufzubauen, und unterstützen stattdessen die Armee und die medizinische Infrastruktur.
Im April vergangenen Jahres wurde in Lviv das Rehabilitationszentrum „Unbroken“ eröffnet. Wie wichtig ist es für Ihr Land?
Seit Beginn des Kriegs haben wir in Lviv 17 000 Verwundete versorgt. Letzten Monat haben wir zusammen mit der deutschen Entwicklungsministerin Svenja Schulze und Freiburgs Bürgermeister Martin Horn im Unbroken-Zentrum eine neue Prothesen-Manufaktur eröffnet. Das ist sehr wichtig, wir können dort 1000 Prothesen pro Jahr anfertigen. Unbroken ist für Soldaten ebenso wie für Zivilisten, auch für Kinder. Wir bieten dort physische, psychologische und soziale Rehabilitation an. Die seelische Gesundheit ist sehr wichtig – physische Rehabilitation ohne psychologische Hilfe hat null Effekt. So kümmern wir uns beispielsweise auch um neue Jobs für die Verwundeten.

Hat sich die Partnerschaft zwischen Lviv und Freiburg durch den Krieg verändert?

Unsere Partnerschaft begann vor 35 Jahren, als es noch die Sowjetunion gab. Damals kam von Zeit zu Zeit eine Delegation aus Freiburg zu Besuch. Aber die russische Invasion hat die Situation verändert. Heute ist unser Kontakt sehr eng. Martin (Horn, Anm. d. Red.) ruft oft an und fragt, wie die Lage ist. Allein während des Kriegs war er drei mal in Lviv. Es ist wie unter Brüdern. Ich bin seit Kriegsausbruch zum ersten Mal in Freiburg. Unsere Partnerschaft ist ein gutes Beispiel, wir haben auch mit den anderen Bürgermeistern, mit städtischen Architekten und dem Referat für Internationales viel Kontakt.

Ist die Partnerschaft in Kriegszeiten wichtiger als vorher?

Freiburg gab und gibt uns guten Input. Wir haben aktuell 28 Partnerstädte, und viele Städte unterstützen Unbroken. Aber Martin ist Botschafter von Unbroken. Heute heilen wir die Verwundeten, in Zukunft müssen wir unsere Städte und unser Land heilen. Freiburg ist führend in neuen Technologien und in Sachen Energie, davon profitieren wir.

Zu Beginn des Gesprächs haben Sie die Beerdigungen erwähnt, die täglich in Lviv stattfinden. Was macht das mit Ihnen als Familienvater mit fünf Söhnen?

Jeden Tag lege ich Blumen auf Särge und spreche Menschen mein Beileid aus, die ihre Liebs­ten verloren haben. Vor allem bei Kindern, die ihren Vater verloren haben, ist das sehr schwer. Es ist nicht möglich, meine Gefühle, mein Inneres zu verstehen. Vielleicht kann ich Ihnen nach dem Krieg mehr sagen – aber heute tue ich meine Pflicht. Es ist mein Job und meine Verantwortung – das sind meine Bürger. Wir haben während des Kriegs rund 1000 unserer Mitbürger verloren, die meisten davon junge Männer und Frauen – das ist eine riesige Menge. Menschen, die die Beerdigungszeremonien miterlebt haben, erzählen mir, dass sie das sehr verändert habe. Man sieht die trauernden Familien und Freunde. Wir starten in einer Kirche, danach zieht die Prozession zum Rathaus und dann zum Friedhof, begleitet vom Klang einer Trompete, die eine eigens dafür bestimmte Melodie spielt.

Sie haben mehr als zwei Jahre Krieg hinter sich – wie ist die Stimmung in Ihrem Land?

Russland hat ein Ziel: die Ukraine zu zerstören und unser Land zu besetzen. Wir haben nur eine Chance zu überleben: Wir müssen gewinnen. Dieser Krieg dauert nicht erst zwei oder zehn, sondern bereits 300 Jahre. (Siehe Infokasten.) Wir setzen unseren Kampf um Unabhängigkeit fort. Heute schaffen wir in der Ukraine unsere demokratische Zukunft. Es ist nicht nur ein russisch-ukrainischer Krieg, sondern ein großer Konflikt zwischen demokratischen und totalitären Regimen. Und wir haben begriffen, was unsere Mission ist. Russland wird von anderen diktatorischen Ländern unterstützt, und diese treffen ihre Entscheidungen sehr leicht und schnell. Demokratische Länder hingegen brauchen mehr Zeit. Wenn wir mehr Flugabwehrsysteme bekommen, können wir sehr schnell ukrainisches Gebiet befreien. Wir beanspruchen kein russisches Gebiet – es geht uns nur um unser eigenes Land. Das ukrainische Volk will Frieden. Jeden Tag verlieren wir Brüder und Schwestern. Das ist sehr schwer für uns – aber es ist unsere Realität. Die Unterstützung aus Freiburg und Deutschland ist für uns sehr konkret und spürbar. Dafür danken wir Ihren Bürgern, Ihrem Bürgermeister und allen Menschen, die verstehen, dass dies ein historischer Moment in unserem Leben ist. Wir dürfen niemals aufgeben. Nur der Sieg zählt.

Hintergrund

Lviv (zu deutsch Lemberg) liegt in Ost-Galizien im Westen der Ukraine und hatte vor dem Krieg rund 730 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Seit Kriegsausbruch flüchteten Menschen aus der ganzen Ukraine nach Lviv – dadurch ist die Bevölkerungszahl inzwischen auf rund eine Million angewachsen.

Die Ukraine war ein multi­ethnisches Gebiet. Mit Ausnahme Galiziens befand sich der größte Teil davon ab dem 18. Jahrhundert unter russischer Herrschaft.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen Intellektuelle zunehmend von den Ukrainern zu sprechen und die Ukraine als Territorium zu denken. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde im russischen Bürgerkrieg die Ukrainische Volksrepublik gegründet – es war der erste Versuch, die Ukraine als Gemeinwesen zu konstituieren und staatliche Unabhängigkeit zu erlangen. Sie umfasste aber längst nicht alle Gebiete der späteren Ukraine.

Ab Anfang 1918 befand sich Kiew in den Händen der Roten Armee. 1919 wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen, bei der Konstituierung der Sowjetunion 1922 war sie eines der Gründungsmitglieder. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde die Ukraine erneut souverän, erstmals mit internationaler Anerkennung.

Im Februar 2014 brach infolge der Annexion der Krim durch Russland und des Kriegs im Donbas ein bis heute andauernder Konflikt zwischen beiden Ländern aus. Die Krim und Teile des Donbas befinden sich seither unter russischer Kontrolle. Am 24. Februar 2022 überfielen russische Truppen die Ukraine; seither befinden sich die beiden Länder im Krieg.

(Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Wikipedia)

Dieser Artikel erschien im Amtsblatt Nr. 866, am 22. Juni 2024. Wer auf dem Laufenden bleiben will, wird alle zwei Wochen per Newsletter über das neue Amtsblatt informiert. Jetzt anmelden!

Veröffentlicht am 21. Juni 2024