Freiburger Sammlungen
Jäger und Sammler - das Archiv Soziale Bewegungen
"Die Völker werden siegen, der Imperialismus wird unterliegen", "Die Mieterzeitung", "Kämpfende Jugend", "Situationistische Internationale", "Vietnam im Kampf" - was haben diese Slogans und Titel diverser Bücher, Zeitschriften und Broschüren gemeinsam? Sie alle sind Zeugnis verschiedener sozialer Bewegungen und werden im Freiburger Archiv Soziale Bewegungen gesammelt.
Das Archiv auf dem Grether-Gelände sammelt seit 1983 alles, was mit sozialen Bewegungen in Zusammenhang steht: Bücher, Zeitschriften, Broschüren, Flugblätter, Fotos, Plakate, Transparente, Protokolle, Film- und Tonaufnahmen sowie andere Überreste der neuen sozialen Bewegungen. Die ursprüngliche Motivation der Gründer, die selbst Akteure sozialer Bewegungen waren, war der Wunsch, sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen zu können – es existierte Diskussionsbedarf. „Es bestand der unverdrossene Glaube, dass man aus der Geschichte lernen kann“, so Volkmar Vogt, Archivleiter seit 1989. Man stellte fest, dass Materialien bürgerschaftlichen Engagements in den Staatsarchiven nicht zu finden sind und entschloss sich daher, die Zeugnisse aller möglichen Bewegungen zu sammeln und auszuwerten. Flugblätter wurden gesammelt, Initiativen wurden angeschrieben, man bat um Freiexemplare von Alternativzeitschriften.
Die Gründer waren keine passiven Sammler – sie sammelten, um das Gesammelte direkt auszuwerten: „So wurden beispielsweise Artikel barbarisch ausgeschnitten und systematisch zusammengestellt, damit man sich direkt damit auseinandersetzen konnte“, erklärt Vogt. „Aus der Bewegung für die Bewegung“ lautete das Motto – ähnlich wie bei den später entstehenden Infoläden. Leider verflüchtigte sich diese Intention schnell, denn das Interesse der Aktivisten war zu gering. „Wir haben den Eindruck, dass bei vielen sozialen Bewegungen nicht die Auseinandersetzung mit einem bestimmten problematischen Feld im Vordergrund steht, sondern die Aktion das Faszinierende ist“, mutmaßt der Archivleiter. „Am einen Tag gehen Tausende auf die Straße, zwei Tage später ist die Bewegung verschwunden.“ Ein Archiv zu gründen, das die Spuren sozialer Bewegungen zu bewahren versucht – vielleicht nimmt das dem Phänomen ein wenig die Flüchtigkeit?
Genutzt wird das Archiv heute hauptsächlich aus wissenschaftlichem Interesse: Regelmäßig gehen Doktoranden und Masterstudierende dort ein und aus, Aktivisten bilden nur ein kleines Grüppchen unter den Besuchern – entgegen der Idee der Archivgründer. Wie sich diese sehr heterogene Gruppe von Akteuren damals zusammengefunden hat, kann Vogt nicht beantworten. Er betont aber, dass die Gründung des Archivs in jedem Fall dem Zeitgeist der 1980er Jahre entsprochen hat, in denen sich in ganz Deutschland diverse Treffpunkte, Diskussionsrunden und Geschichtswerkstätten auftaten. Als der Freiburger Hans Köhler verstarb, der seit Ende der 1960er Jahre intensiv Flugblätter gesammelt hatte – auch über Freiburg hinaus –, bildete dessen Sammlung den Anfangsbestand des Archivs Soziale Bewegungen.
Heute bildet der Archivbestand das breite Spektrum sozialer Bewegungen ab. Auf drei Stockwerken sind die Regale bis obenhin voll mit Ordnern, nach Themen sortiert: „Anti-AKW“, „Studentenbewegung“, „Häuserkampf“ zieren die Ordnerrücken – all das wichtige Stationen der Freiburger Stadtgeschichte. Daneben werden Quellen zu aktuellen Themen gesammelt: Internationale Solidarität, Gentrifizierung, Flüchtlingspolitik. Die Größe des Archivbestands lässt sich nicht genau benennen, doch es sind inzwischen mehr als 100.000 Flugblätter, 1600 Zeitschriftentitel, rund 3000 Broschüren – verzeichnet werden alle Objekte in der vom Archiv selbst entwickelten Datenbank „Alexandria“. Welche sozialen Bewegungen werden gesammelt, welche nicht? „Das Archiv schließt keine Bewegung aus“, erklärt Volkmar Vogt. Tendenziell – und das spiegelt sich ja auch in der Entstehungsgeschichte des Archivs wieder – hat es jedoch einen linken Schwerpunkt.
Der Archivleiter ist selbst regelmäßig auf Demos, um dort neue Quellen für das Archiv abzugreifen. Außerdem gibt es Stellen in der Stadt, wo solche Dinge ausgelegt werden. Manchmal, so schildert er, kämen auch Leute vorbei, um etwas abzugeben. „Wir lehnen allerdings alle Sachen ab, die schon irgendwo stehen“, so Vogt. „Wenn ein Buch eine ISBN-Nummer hat, nehmen wir es nicht an.“ Eine weitere Art, an Objekte zu kommen, ist das „Jagen“. Dabei entdeckt Vogt beispielsweise einen Namen in einer für das Archiv interessanten, doch unvollständigen Quelle. Da er die jeweilige Quelle gerne vervollständigen würde, durchforstet er alte Telefonbücher und das Internet so lange, bis er die Leute auftreibt. Auf diese Art und Weise ist das Archiv schon an die eine oder andere Rarität gekommen. Manchmal laufen die Recherchen des dreiköpfigen Teams – Volkmar Vogt arbeitet mit einer Aushilfe und einem ehrenamtlichen Mitarbeiter zusammen – jedoch leider ins Leere, denn vieles wurde im Laufe der Jahre weggeworfen. „Einmal habe ich eine Frau aufgetrieben, die als Herausgeberin einer Zeitschrift genannt war. Als ich sie anrief, hatte sie jedoch noch nie von dieser Zeitschrift gehört – man hat also damals einfach ihren Namen ins Impressum gesetzt“, schildert Vogt einen Fall, bei dem ihn die vielversprechende Spur nicht weiterführte.
Wie sieht die Zukunft des Archivs aus? „Wir werden weiter sammeln, jagen und horten“, so Volkmar Vogt. „Leider löst sich manches mit der Zeit auf – Flugblätter zum Beispiel“, erklärt er. Denn der Institution fehlen die finanziellen Mittel, um das Gesammelte professioneller zu lagern.
Gespräch: Volkmar Vogt mit Sonja Thiel, Text: Lisa Blitz